Direkt zum Inhalt

Evolution: Tiere, die voneinander lernen

Die menschliche Kultur soll auf unserer in der Tierwelt einzigartigen Fähigkeit beruhen, dass wir von unseren Artgenossen mehr lernen, als wir es allein im ganzen Leben durch eigene Erfahrung könnten. Zwei Studien lassen jedoch darauf schließen, dass wir sie mit Hummeln und Schimpansen teilen.
Drei Schimpansen stehen in einer Gruppe zusammen und schauen auf einen Gegenstand in der Hand des einen Affen.

Sie und ich sind biologisch gesehen beide afrikanische Primaten, doch während ich diesen Text auf einem Laptop in Cornwall schreibe, lesen Sie ihn vielleicht in Köln, Karlsruhe oder Krefeld. Darin spiegelt sich eine der bemerkenswertesten Eigenschaften der menschlichen Spezies wider: Wir verbreiten Innovationen, bauen auf ihnen auf und verbessern so ständig unser Können und unsere Technologien – ein Phänomen, das man als »kumulative Kultur« bezeichnet. Das hat es unserer Art erlaubt, sich über den gesamten Globus auszubreiten, Ökosysteme zu verändern und in die entlegensten Winkel des Weltraums zu blicken.

Dass auch andere Tiere zumindest im Ansatz bescheidene Formen einer kumulativen Kultur zeigen, ist bereits seit längerer Zeit bekannt. Zum Beispiel verfeinern Brieftauben (Columba livia) die Effizienz ihrer Flugrouten, indem sie voneinander lernen. Doch die menschliche kumulative Kultur mit ihrem gigantischen Ausmaß scheint eindeutig alles zu übertreffen, was bisher in der natürlichen Welt beobachtet wurde. Ein einflussreicher Erklärungsansatz hierfür geht davon aus, dass unter den Tieren nur Menschen in der Lage sind, von Artgenossen etwas lernen zu können, was sie nicht selbst entdeckt und erfunden haben. Ihr angesammeltes Wissen übersteigt demnach die Summe all dessen, was sich alle Individuen selbst erschließen können – Fachleute sprechen in letzterem Fall von der »Zone latenter Lösungen«. Zwei neuere Arbeiten, die sich mit zwei sehr unterschiedlichen Tierarten befassen, lassen zusammengenommen nun aber ernsthafte Zweifel an dieser angeblichen menschlichen Ausnahmeerscheinung aufkommen.

Ein Team um Edwin van Leeuwen von der niederländischen Universität Utrecht stellte in einer Auffangstation in Sambia Schimpansen (Pan troglodytes) eine mehrstufige Aufgabe: Um eine Belohnung in Form von Erdnüssen zu erhalten, mussten die Affen jeweils eine Holzkugel holen, dann eine Schublade an einem Automaten aufziehen und sie offen halten, um die Kugel einzuwerfen. Sobald ein Tier nun die Schublade schloss, spuckte das Gerät eine Portion Nüsse aus (siehe »Lernen durch Zusehen«).

Zuerst ließen die Fachleute die 66 beteiligten Primaten die Aufgabe ohne Hilfestellung erkunden. Über einen Zeitraum von drei Monaten gelang es keinem einzigen Individuum, an die Erdnüsse heranzukommen. Im Anschluss bekamen zwei Schimpansen beigebracht, den Automaten zu bedienen. Diese beiden agierten daraufhin als Vorführer für die anderen. Sie verbreiteten damit das neue Wissen in ihrem sozialen Netzwerk, so dass schließlich nach weiteren drei Monaten insgesamt 14 Tiere die Aufgabe lösen konnten.

Schimpansen scheinen also wie der Mensch zu den Tieren zu gehören, die sich durch Beobachtung Fähigkeiten aneignen können, die für sie allein nur schwer oder gar nicht zu erlernen sind. Im Prinzip könnte das die Basis für eine kumulative Kultur bilden, bei der viele Individuen von den Fortschritten einiger weniger profitieren. Das Ergebnis überrascht aber vielleicht gar nicht so sehr, wenn man bedenkt, dass die Primaten über ein großes Gehirn und ein reiches kulturelles Leben verfügen. So entwickeln sie Traditionen bei der Nahrungssuche oder der Werkzeugherstellung, die sich von Gemeinschaft zu Gemeinschaft unterscheiden.

Lernen durch Zusehen | Tiere können sich Fähigkeiten aneignen, die zu komplex sind, als dass ein Individuum sie in seinem Leben selbst entwickeln könnte. So gelingt es Schimpansen nur dann, innerhalb von drei Monaten Erdnüsse aus einem Automaten zu ergattern, wenn sie hierfür einen Artgenossen beobachten, der zuvor entsprechend trainiert wurde (oben). Über diese Kompetenz verfügen sogar wirbellose Tiere: Hummeln können voneinander lernen, eine Puzzlebox zu öffnen, die Individuen ohne Vorbilder während bis zu 24 Tagen nicht geknackt haben – das ist länger, als die meisten Hummeln in ihrem Leben auf Nahrungssuche sind. Ein Tier muss hierbei zwei Schieber bewegen, um an die Zuckerlösung zu gelangen (unten).

Die zeitgleich veröffentlichte Studie der Arbeitsgruppe um Lars Chittka von der britischen Queen Mary University of London ist daher umso bemerkenswerter, als sie sich nicht auf nahe Verwandte des Menschen konzentrierte: Sie untersuchte Erdhummeln (Bombus terrestris) – Tiere mit einem Hirnvolumen, das kaum 0,0005 Prozent von dem eines Schimpansen erreicht (siehe »Spektrum« Juni 2024, S. 28). Für die Versuche verwendete das Team eine zweistufige Puzzlebox, in der ein Insekt zunächst einen blauen Schieber aus dem Weg drücken musste, um einen roten Schieber zu erreichen. Diesen konnte es dann bewegen, um eine Zuckerlösung frei zu legen (siehe »Lernen durch Zusehen«).

In drei getesteten Völkern gelang es keiner Hummel, das Rätsel in einem Zeitraum von 12 beziehungsweise 24 Tagen selbstständig zu lösen. Mühsam brachten die Forscherinnen und Forscher daraufhin neun Tieren mit Hilfe zusätzlicher Belohnungen bei, an das Zuckerwasser zu kommen. Bemerkenswerterweise lernten 5 von 15 Hummeln, die einige Zeit mit den derart trainierten Vorzeigerinnen in der Puzzlebox verbrachten, wie sie den Mechanismus bedienen mussten. Es handelt sich zwar um kleine Stichproben, doch das Ergebnis ist klar: Die Aufgabe war für die Tiere sehr schwer allein zu bewältigen, aber einige konnten sie durch soziales Lernen lösen.

Es lässt sich nicht ausschließen, dass einzelne Individuen die Aufgaben nach längerer Zeit vielleicht noch eigenständig gemeistert hätten. Immerhin erscheinen drei Monate für einen Schimpansen, der 40 Jahre oder älter werden kann, als nicht sehr lange. Im Gegensatz dazu verbringt eine Hummel allerdings im Schnitt nur acht Tage ihres Lebens mit der Futtersuche. Die 12 bis 24 Tage in der Untersuchung von Chittkas Arbeitsgruppe entsprechen also womöglich bereits dem Maximum dessen, wozu die Tiere in ihrem Leben fähig sind.

Und was wäre, wenn mehr Individuen an den Experimenten teilgenommen hätten? Diese Frage verdeutlicht ein allgemeines Problem beim Testen einer Hypothese, die auf dem Konzept der »Zone latenter Lösungen« basiert. Denn: Wie kann ein Forscher jemals sicher sein, dass eine Aufgabe zu schwierig ist, als dass sie allein gelöst werden kann? Und lässt sich eine solche Zone wirklich für eine Tierart definieren, wenn die kognitiven Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse zwischen den Individuen dieser Spezies je nach ihren Genen und Entwicklungserfahrungen stark variieren?

Eine soziale Übertragung von Handlungen, die Tiere durch menschliches Training erwarben, beweist natürlich nicht, dass Hummeln oder Schimpansen solche komplexen Fähigkeiten in freier Wildbahn voneinander lernen. Außerdem untersuchten beide Arbeitsgruppen die Folgen einer einzigen sozialen Übertragung. Das Potenzial, Kompetenzen progressiv zu verbessern – ein Charakteristikum für kumulative Kultur –, konnten sie so nicht explizit testen. Die Studie mit den Primaten weist jedoch faszinierende Parallelen zu natürlichen Verhaltensweisen der Tiere auf, wie etwa dem Nüsseknacken – einer mehrstufigen Fähigkeit, die nach Ansicht mancher Wissenschaftler für Schimpansen zu komplex ist, um sie allein erlernen zu können. Demnach könnte es sich hier um das Ergebnis einer kumulativen Kultur handeln.

Eine besondere Stärke der beiden Studien liegt aber vielleicht gar nicht so sehr darin, was sie uns über kumulative Kultur bei Hummeln oder Schimpansen verraten. Vielmehr offenbaren sie auch einiges über uns Menschen. Unsere Spezies überschätzt gewöhnlich, wozu sie im Vergleich zu anderen Tieren in der Lage ist, und sucht pauschale Erklärungen für die menschliche Kognition und Kultur. Die Forschungen legen nun nahe, dass die Fähigkeit, von anderen das zu lernen, was man allein nicht herausfinden kann, auf dem Müllhaufen vormals als »einzigartig menschlich« erachteter Errungenschaften landen sollte – wo bereits der Gebrauch von Werkzeugen, das episodische Gedächtnis oder die absichtliche Kommunikation liegen. Man muss sich hierbei auch nicht auf spezielle Formen des sozialen Lernens wie das Nachahmen von Körperbewegungen beschränken. Die Hummeln lernten einfach, indem sie kompetente Vorführerinnen genau beobachteten und so Erfahrungen mit der Aufgabe sammelten. Viele psychologische Studien mit Menschen kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. So zeigten Experimente, dass wir Körperbewegungen nicht nachahmen müssen, um zunehmend besser konstruierte Werkzeuge zu produzieren.

Wenn Schimpansen und Hummeln von Artgenossen etwas lernen können, zu dem sie allein nicht im Stande sind, dann kann diese Fähigkeit wohl nicht die ausgeprägte kumulative Kultur des Menschen erklären. Vielmehr dürfte sie umgekehrt ihr Resultat sein. Kumulative Kultur bringt Produkte hervor, die viel zu komplex sind, als dass einer von uns sie allein hätte erfinden können – wie den Laptop, auf dem ich gerade schreibe. Vielleicht ist es an der Zeit, die einfachen Erklärungsversuche aufzugeben. Wir sollten stattdessen untersuchen, wie das koevolutionäre Netz zwischen Innovation, sozialem Lernen und sozialer Struktur zu jener komplexen Kultur führt, von der alle Menschen abhängen.

WEITERLESEN MIT SPEKTRUM - DIE WOCHE

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen »spektrum.de« Artikeln sowie wöchentlich »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Genießen Sie uneingeschränkten Zugang und wählen Sie aus unseren Angeboten.

Zum Angebot

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen

Bridges, A. D. et al.: Bumblebees socially learn behaviour too complex to innovate alone. Nature 627, 2024

van Leeuwen, E. J. C. et al.: Chimpanzees use social information to acquire a skill they fail to innovate. Nature Human Behavior 10.1038/s41562–024–01836–5, 2024

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.